Der Endocannabinoid-Tonus: Trotz therapeutischer Relevanz in der Praxis unterschätzt

Juni 1, 2022
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Jeder Mensch hat einen ihm eigenen Endocannabinoidsystem-Tonus (ECS-Tonus), der den Spiegel der ECS-Bestandteile wiedergibt. Sowohl ein zu niedriger als auch ein zu hoher ECS-Tonus können zu gesundheitlichen Problemen führen und scheinen an der Entstehung und Chronifizierung von Aufrechterhaltung chronischer Krankheiten beteiligt zu sein. Leider sind die Zusammenhänge in der medizinischen Fachwelt weitgehend unbekannt.  

Wir haben Robert Uhlenbrock, Arzt der Kalapa Clinic und Experte für den Einsatz von medizinischem Cannabis, zur Bedeutung des ECS-Tonus befragt.  

CanPharma: Herr Uhlenbrock, was passiert im menschlichen Körper, wenn der ECS-Tonus von der Norm (den Durchschnittswerten) abweicht? 

Aktuell geht die Wissenschaft davon aus, dass zum Beispiel ein klinisch relevanter Endocannabinoid-Mangel zu einem Ungleichgewicht im Körpersystem führt. Dieses Ungleichgewicht scheint an einer Reihe chronischer Krankheiten beteiligt zu sein. Verschiedene Studien legen einen Zusammenhang zwischen einem niedrigen ECS-Tonus und Reizdarm-, Migräne- sowie Fibromyalgie-Beschwerden nahe [1]. Gerade bei der Entstehung der Migräne mehren sich die Hinweise auf eine Beteiligung des körpereigenen Endocannabinoidsystems [2].   

CanPharma: Welche Ursachen gibt es für einen Mangel an körpereigenen Cannabinoiden und wie lässt sich dieses Wissen therapeutisch nutzen? 

Ein niedriger ECS-Tonus kann sowohl genetische Ursachen haben als auch durch das individuelle Gesundheitsverhalten eines Menschen beeinflusst sein. Produziert der menschliche Körper beispielsweise zu viele Enzyme, welche die körpereigenen Endocannabinoide abbauen, ist der Tonus zu gering. Da Endocannabinoide in der menschlichen Physiologie eine entscheidende Rolle spielen, kann ein mangelhafter ECS-Tonus mit einzelnen Beschwerden oder manifesten Krankheiten einhergehen. 

Dieses Wissen hat therapeutische Relevanz: Würde beispielsweise der Anandamid*-Spiegel im Blut in regelmäßigen Abständen untersucht, bemerkten wir eine klinisch relevante Dysbalance frühzeitig und könnten reagieren. Ich denke da an die Zufuhr exogener – also pflanzlicher – Cannabinoide, aber auch die Regulation über Sport, Stressreduktion und eine gesunde Ernährung. Gerade für die Faktoren des sogenannten Lebensstils gibt es mittlerweile vielversprechende Studien, die eine gesundheitsfördernde Wirkung belegen [3].  

CanPharma: Warum wird der ECS-Tonus unter Mediziner*innen kaum berücksichtigt? 

Das Wissen um das körpereigene Endocannabinoidsystem ist kein Thema der universitären Lehre und daher kaum in der Fachwelt verankert. Wer behandelnde Ärzt*innen um eine Bestimmung des Anandamid-Spiegels bittet, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auf geringe Kenntnisse stoßen. Darüber hinaus gibt es meines Wissens kein Labor, das den Parameter im Rahmen eines Blutbildes erhebt. Die therapeutische Bedeutung des ECS-Tonus wird erheblich unterschätzt. Das muss sich dringend ändern! 

 * Anandamid, ist das bekannteste und wissenschaftlich zuerst beschriebene Endocannabinoid. Es gehört zu den wichtigsten Endocannabinoiden zur Steuerung des Gleichgewichts in unserem Körper, genannt Homöostase. 

 

Quellen:  

[1] Russo, Ethan B. “Clinical Endocannabinoid Deficiency Reconsidered: Current Research Supports the Theory in Migraine, Fibromyalgia, Irritable Bowel, and Other Treatment-Resistant Syndromes.” Cannabis and Cannabinoid Research, vol. 1, no. 1, Dec. 2016, pp. 154–165, ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5576607/, 10.1089/can.2016.0009. 

 [2] Greco, Rosaria, et al. “Endocannabinoid System and Migraine Pain: An Update.” Frontiers in Neuroscience, vol. 12, 19 Mar. 2018, www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5867306/, 10.3389/fnins.2018.00172. Accessed 23 Nov. 2020. 

 [3] “Beeinflusst Sport Endocannabinoide Im Blut Und Migräne? • DGP.” DeutschesGesundheitsPortal,  25 Nov. 2021, www.deutschesgesundheitsportal.de/2021/11/25/beeinflusst-sport-endocannabinoide-im-blut-und-migraene/. Accessed 17 May 2022. 

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